Señora de pollera und die Macht der bolivanischen Wirtschaft

Heute ist ein besonderer Tag, denn morgen wird der Gründung von La Paz gedacht. Auf der Straße werden ewig lange Paraden abgehalten, Kinder, Jugendliche und Erwachsene defilieren in Uniformen mit Blasmusik und Trommeln durch die Hauptstraßen. Die Frauen meist in hohen Stöckelschuhen, über die gepflasterte Straße balancierend. Diverse Kostüme werden ausgeführt, ein Pärchen trägt Partnerlook, er eine Hose mit sehr weiten Hosenbeinen in neonorange und mit viel Glitzer bestickt, sie eine Cholita-Tracht in passender Farbe, an den langen schwarzen Zöpfen sind neonorange Bommel befestigt.

Das Stadtbild sieht auf den ersten Blick nicht anders aus, als in anderen Großstädten. Frauen und Männer in Business-Outfits mit Aktentaschen, Kinder in Schuluniformen, Jugendliche mit Rucksäcken und Handys. Männer lassen sich noch rasch von wie maskiert aussehenden Schuhputzern ihre Schuhe auf Hochglanz bringen. Dazwischen die Cholitas, die Brötchen, Saltineras – pikant gefüllte Teigtaschen – und Süßigkeiten verkaufen. Es wirkt geschäftig und wirtschaftlich florierend, die Busse, groß und klein, wälzen sich stinkend durch die Straßen.

Die Menschen, die wir in La Paz sehen, bieten eine interessante Mischung. Generell sind sie klein, haben dunkle Haare und dunkle Haut mit festen glänzenden Backen. Helle Haare sieht man kaum, auch graue Haare nicht. Kopfbedeckung wird immer getragen, am Abend die wärmende Mütze, untertags diverse Kappen. Selbst die BauarbeiterInnen haben einen speziellen Sonnenschutz, sieht aus wie eine Kappe mit Loch in der Mitte und wird direkt über den Bauhelm aufgesetzt, um Gesicht und Nacken zu schützen.

Die Nachkommen der UreinwohnerInnen Boliviens nennen sich „originarios“, seit Beginn der Präsidentschaft von Evo Morales 2006, selbst ein Aymara, tragen sie ihre Herkunft mit Stolz. Zehn von Boliviens zwanzig MinisterInnen sind Frauen, viele tragen Tracht.

Die Frauen in Tracht heißen „cholitas“ oder „señiora de pollera“ und sind im Stadtbild allgegenwärtig, die braune Melone adrett auf den Kopf gesetzt, die makellos schwarzen Haare zu zwei Zöpfen gebunden – die man auch als Haarverlängerung kaufen kann -  an den Zöpfen sind Bommel befestigt, der bunte Rock ist mit drei Unterröcken aufgebauscht, eine Stola wird als Umhang über den festen Oberkörper geschlungen und mit einer Brosche über der Brust befestigt, die bestrumpften Beine stecken in Ballerina-Schühchen mit leichtem Absatz. Am Rücken sitzt das Transporttuch mit Inhalt, in Rosa-, Blau- und Rottönen gemustert. Die Farbe dieses Tuches - „ahuayos“ - variiert. Die jungen Frauen ziehen grellere Farben vor, die älteren Frauen – wobei älter hier sehr relativ ist – bevorzugen gedeckte Farben. Die Cholita-Mama geht voran, die Söhne in ihren Angry-Bird-Pullovern daneben, der Mann in Anzughose und warmem braunen Pulli und Kapperl daneben. Die Tracht der Cholitas gilt als typisch bolivianisch, wurde allerdings abgeschaut von den spanischen Kolonialherren. Seit dem 18. Jahrhundert begannen Mestizen, allseits gering geschätzte Mischlinge, die zu Geld gekommen waren, sich wie die spanische Oberschicht zu kleiden. Sie wollten sich gegenüber gewöhnlichen „Indios“ abgrenzen. Die Frauen trugen Faltenrock, Stola und Strohhut. Um 1920 tauschten die Frauen den Strohhut gegen die braune Melone. Der Geschichte nach hatte ein Händler statt der bestellten schwarzen Melonen eine große Ladung brauner Melonen erhalten und setzte diese geschäftstüchtig ab, indem er verbreitete, dies sei in Europa der letzte Schrei. Angeblich kann mit dem Sitz der Melone – leicht nach recht geneigt – der Single-Status signalisiert werden.

Das Durchschnittsalter in Bolivien ist 22 Jahre. Wir sehen fast ausschließlich junge Leute auf der Straße, das Alter zu schätzen ist schwierig. Vermeintlich ältere Cholitas tragen ihre Babies auf dem Rücken, richtig alte Leute sehen wir selten.  Die Art, die Kinder auf den Rücken zu schnallen, ist eine Kunst, wie unsere Spanischlehrerin, selbst eine Aymara, erzählt. Die Babies liegen schräg in dem bunten Tuch und werden mit Schwung auf- und abgesetzt. Die moderneren Frauen bevorzugen es, ihre Babies in Bauchtragerl zu transportieren, quer vor dem Bauch, Kinderwagerl wären bei den Straßenverhältnissen unpraktisch.

Die Frauen und Kinder sind rundlich, bei dem Essen, das auf der Straße angeboten wird, eigentlich nicht erstaunlich. Es überwiegt Fleisch und Frittiertes, der Reis und die Kartoffeln werden gerne mal in Fett gekocht.  Es wirkt, als wären die Familien nicht sonderlich kinderreich, hat eine Frau ein Baby am Rücken, sind gerade mal ein bis zwei weitere Kinder im Schlepptau. Das bestätigt auch unserer Spanischlehrerin. La Paz sei ein teures Pflaster und Ein- bis Zweikindfamilien eher die Regel. Sichtbare Armut sehen wir wenig in dem Stadtteil, in dem wir leben, obwohl wir wissen, dass das Durchschnittseinkommen umgerechnet rund 85 Euro beträgt. Wir leben allerdings im Viertel der StudentInnen, in Sopocachi. In El Alto, oben am Altiplano, wo die Luft dünner ist, sieht das sicher ganz anders aus.

Der Mindestlohn beträgt 1050 Bolivianos, das sind rund 110 Euro. Arbeitslosengeld gibt es nicht, auch die staatliche Gesundheitsvorsorge ist eher mangelhaft.

Roxana, Astrids Spanischlehrerin, ist eine glühende Verehrerin vom Staatspräsidenten Evo Morales, der sich übrigens kürzlich als Profifußballer von einem 2. Ligaklub verpflichten ließ. Evo Morales hat viel Gutes für die Menschen gebracht, erzählt sie. Sie kommt aus einer Aymara-Quechua-Familie und musste als Kind Diskriminierung in der Schule ertragen. Das sei nun anders. Ihre Tochter geht in eine öffentliche Schule, die gut ist, eigentlich sollte dort laut Verfassung auch Aymara unterrichtet werden. Das ist aber nicht der Fall, immer wieder werde sie vertröstet, dass es eben derzeit keine LehrerInnen dafür gebe. Doch das Leben sei besser, es gäbe Unterstützung für werdende Mütter und alte Menschen, die Reichen müssen Steuer zahlen, die Ärmeren nicht, die Wirtschaft floriere. Auf das Gesetz angesprochen, dass erst kürzlich erlassen wurde und Kinderarbeit ab 10 Jahren erlaubt, verteidigt sie dies. Es sei oft notwendig, dass Kinder arbeiten, besonders am Land in kinderreichen Familien, um das Überleben zu sichern. So würden die Kinder aus der Illegalität auftauchen und legal arbeiten können. Sie geht davon aus, dass Evo Morales 2014 wiedergewählt wird, auch wenn die Verfassung, von Evo Morales selbst geschrieben, eine dritte Amtsperiode nicht vorsieht. Doch die meisten BolivianerInnen wollen ihn weiterhin als Präsident, besonders die Landbevölkerung und die „indigenas“ oder „originarios“.

Wir genießen alle vier den Kontakt mit unseren Spanischlehrerinnen. Die Kinder erarbeiten sich eifrig und motiviert die ersten Worte, Stoffl und Astrid holen Tipps und Tricks für das Leben in La Paz und Astrid versucht sich intensiv im gesprochenen Spanisch. Kontakte zu haben ist so, wie überall auf der Welt, sehr von Nutzen, denn schon in zwei Wochen soll die Übergabe des Wohnmobils erfolgen. Da können wir jeden Kontakt und alle Tipps brauchen!